Außer Theaterbühnen gibt es noch weitere Orte, wo man die Erzählungen der Toten hören kann: z. B. in einem Völkerkundemuseum. Im Hamburger Völkerkundemuseum stehen viele transparente Särge nebeneinander, in denen sich jeweils eine tote Figur befindet. Jede Figur verkörpert ein Volk. Ein stehender Sarg erinnert an eine Telefonzelle, weil die Figuren darin aussehen, als wären sie im Begriff zu erzählen. Deshalb müssen die Särge wahrscheinlich stehen, anstatt wie üblich zu liegen.
Die Figuren in den Särgen - die aus Kunststoff hergestellten Puppen - machen einen Zusammenhang zwischen dem Tod und den Puppen deutlich: Die als Puppen dargestellten Völker sind alle einmal in der Geschichte von anderen kulturell oder wirtschaftlich erobert und zum Teil vernichtet worden.
Wie auch in anderen Museen wird hier ein Machtverhältnis sichtbar, daß nämlich das Dargestellte immer zugleich das Eroberte ist. In einem zoologischen Museum z. B. wird ein ausgestopfter Wolf ausgestellt, während umgekehrt kein Wolf einen Menschen ausstellen kann. In einem historischen Museum herrscht auch ein hierarchisches Verhältnis zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart.
Solange, wie ein Fremder bedrohlich erscheint, versucht man, ihn zu vernichten. Wenn er tot ist, stellt man ihn als Puppe liebevoll in einem Museum dar. Man kann dort die Puppe betrachten, die Erklärung über seine Lebensart lesen, die Fotos von seinem Land sehen, aber man versteht etwas nicht. Ein Schleier trennt den Museumsbesucher von der toten Puppe, so daß er wenig erfahren kann.
Man erfährt viel mehr, wenn man versucht, ein ausgedachtes Volk zu beschreiben. Wie soll ihr Leben aussehen? Wie funktioniert ihre Sprache? Wie sieht ein ganz fremdes Sozialsystem aus? Genauso interessant ist, einen Betrachter zu spielen, der aus einer fiktiven Kultur kommt. Wie würde er ‘unsere’ Welt beschreiben? Das ist der Versuch der fiktiven Ethnologie, in der nicht das Beschriebene, sondern der Beschreibende fiktiv ist.
Tawada, Yoko (1996): Talisman. konkursbuch: Tübingen 2016.
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