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Wolfgang Jäger

über Museum und Soziale Demokratie

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über Museum und Soziale Demokratie

Wie steht es um die Repräsentation sozialer Demokratie im kulturhistorischen Museum?

Neue Dauerausstellungen in den Nationalmuseen in Berlin und Bonn angekündigt.

Die beiden wichtigsten kulturhistorischen Museen in Deutschland, das Deutsche Historische Museum in Berlin und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, haben angekündigt, ihre Dauerausstellungen vollständig neu zu erarbeiten. In Berlin haben die Arbeiten begonnen, und da im historischen Gebäude, dem Zeughaus Unter den Linden, aufwändige bauliche Renovierungen anstehen, ist die Neueröffnung der Dauerausstellung erst für 2025 angekündigt. Im Bonner Haus der Geschichte hofft man, nach einjähriger Schließung der Dauerausstellung, Anfang 2023 die Neueröffnung feiern zu können. Allein für das im Vergleich mit Berlin kleinere Bonner Museum sind 25 Millionen Euro im Bundeshaushalt nur für die neue Dauerausstellung eingeplant, zusätzlich zu den jährlichen Haushaltsmitteln in etwa derselben Höhe. (HdG: Bericht 2021, S. 2 u. S. 122)

Wer heute nach dem zukünftigen Umfang und den zukünftigen Formen der Repräsentation sozialer Demokratie in den neuen Dauerausstellungen in Berlin und Bonn fragt und sich nicht in Mutmaßungen verlieren will, kann lediglich in der Retrospektive analysieren, was die beiden „alten“ Dauerausstellungen bisher geboten haben. Und um die eigenen Maßstäbe offen zu legen, soll zunächst nach dem aktuellen Verständnis des kulturhistorischen Museums und den Kernbereichen der sozialen Demokratie gefragt werden.

Zum Verständnis des kulturhistorischen Museums

Die maßgebliche Definition des Museums stammt vom Internationalen Museumsrat ICOM, dessen gültige Fassung wie folgt lautet: „Ein Museum ist eine dauerhafte Einrichtung, die keinen Gewinn erzielen will, öffentlich zugänglich ist und im Dienst der Gesellschaft und deren Entwicklung steht. Sie erwirbt, bewahrt, beforscht, präsentiert und vermittelt das materielle und immaterielle Erbe der Menschheit und deren Umwelt zum Zweck von Studien, der Bildung und des Genusses.“(Thiemeyer 2018, S. 6) Die Kernaufgaben des Museums sind demgemäß rein funktional definiert: Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen und Vermitteln. Der Zweck des Museums, nämlich Studien, Bildung und Genuss, bleibt äußerst unspezifisch. Und mit Blick auf das kulturhistorische Museum, das keine ähnlich elaborierte Definition vorweisen kann, bleibt zu ergänzen, dass es sich mit Geschichte und ihrer Bedeutung für die Gegenwart befasst, und dabei nicht nur auf die Geschichts- sondern auch auf Kulturwissenschaft im umfassenden Sinne rekurriert.

Schon die Erweiterung der Museumsdefinition des ICOM Mitte der 1970er Jahre zeigt, dass das Verständnis des Museums sich in einem ständigen Veränderungsprozess befindet. Die Definition von 1974 spiegelt dramatische Veränderungen im Museumswesen und der Museologie im internationalen Rahmen, die in Deutschland mit dem programmatischen Titel „Das Museum. Lernort contra Musentempel“ treffend zum Ausdruck kamen. (Spickernagel/Walbe 1979) In vielen historischen Museen entstanden in den 1970er Jahren neue Ausstellungen, die sich mit ihren Themen und der Form der Präsentation an ein breiteres Publikum richteten. Unter dem Schlagwort „Kultur für alle“ wandten sich viele Museen neuen alltagsgeschichtlichen Themen zu, machten die industrielle Arbeitswelt, die Geschichte der Arbeit und der Arbeiter*innenbewegung zum Thema und scheuten sich nicht, auch aktuelle politische Auseinandersetzungen zum Gegenstand musealer Präsentationen zu machen. Zugleich begann die Blütezeit der Museografie, die der Gestaltung der Ausstellungen ein völlig neues Gesicht gab. Anstelle der oftmals nur einem bürgerlichen Fachpublikum verständlichen Klassifikation musealer Exponate trat die einer storyline folgende aufwändige, museale Inszenierung bis hin zur szenografischen Gestaltung ganzer Räume. (Jäger 2020, S. 35-41)

Waren viele historische Museen nicht nur in Deutschland der formalen Definition des Internationalen Museumsrates schon weit voraus, so nimmt es nicht Wunder, dass in der ICOM derzeit eine intensive Debatte für eine neue Definition stattfindet. Seit 2017 arbeitet ein ICOM Komitee an einer neuen Museumsdefinition. Es versteht unter Museen „democratizing, inclusive and polyphonic spaces for critical dialogue about the pasts and the futures. Acknowledging and addressing the conflicts and challenges of the present, they hold artefacts and specimens in trust of society, safeguard diverse memories for future generations and guarantee equal rights and equal access to heritage of all people. Museums are not for profit. They are participatory and transparent, and work in active partnership with and for diverse communities to collect, preserve, research, interpret, exhibit, and enhance understandings of the world, aiming to contribute to human dignity and social justice, global equality and planetary wellbeing.” Diese Definition ist fraglos eine “museumspolitische Zäsur”, wenngleich nicht abzusehen ist, ob die ICOM Generalversammlung 2022 sie sich zu Eigen machen wird. (Thiemeyer 2019, S. 115; Kritter, 2020, S. 38-42) Die neue Definition positioniert das Museum in einer diversen Gesellschaft explizit als einen politischen Ort, der sich seiner sozialen Verantwortung stellt, Rechenschaft gegenüber der Öffentlichkeit ablegt und partizipativ mit den Museumsbesucher*innen zusammenarbeitet. Mit dieser Definition wäre das ICOM auf der Höhe der aktuellen museologischen Debatte, die das Museum im 21. Jahrhundert „nicht mehr als Ort der alleinigen Deutungsmacht über Geschichte“, sondern als ‚contact zone‘ und Reflexionsraum sieht. (Radonic/Uhl 2020, S. 11; Baur 2013, S. 41/42; Gesser/Gorgus/Jannelli 2020)

Jedoch was heißt Reflexion im kulturhistorischen Museum? Es geht zu allererst um Erinnerung, die allerdings sehr unterschiedlich konturiert sein kann. Die Kulturwissenschaftler Anna Cento Bull und Hans Lauge Hansen haben eine Systematik unterschiedlicher Formen der Erinnerung vorgelegt, in der sie sich für die Form des agonalen Erinnerns als überlegene Form der Erinnerung aussprechen. (Bull/Hansen 2016, S. 390-404) Sie unterscheiden drei Formen der Erinnerung, das antagonistische, das kosmopolitische und das agonale Erinnern. Das antagonistische Erinnern zeichnet sich dadurch aus, dass klare Grenzen zwischen Gruppen gezogen und Wertungen gefällt werden, die die eigene Gruppe als die moralisch überlegene sehen. Es gibt die verehrungswürdigen Herrscher und Helden der eigenen Nation und die zu verachtenden Feinde, ein Muster der Erinnerung, das in den konkurrierenden Nationalstaaten im 19. Jahrhundert stilbildend war. Dieselbe Denkfigur des ‚Wir‘ und die ‚Anderen‘ zeichnet heute den politischen Rechtspopulismus aus. Als die derzeit dominierende Form der Erinnerung sehen Bull und Hansen das kosmopolitische Erinnern. Es sprengt den nationalstaatlichen Rahmen und rekurriert auf universelle Menschenrechte als die fundamentale Antwort auf das Menschheitsverbrechen des Holocaust. Die Erinnerung an den Holocaust hat eine neue Form der Erinnerung geschaffen, die Grundlage für eine globale, vernunftgesteuerte Menschenrechtspolitik. (Levy/Sznaider 2001) Diese berechtigte Identifikation mit den Opfern im kosmopolitischen Erinnern wird jedoch der Auseinandersetzung mit den Ursachen ihres Opfergangs und den Rollen und der Verantwortung der Verfolger und Mitläufer nicht wirklich gerecht. Die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe kritisiert das dem kosmopolitischen Erinnern zugrundeliegende deliberative Politikmodell, das bei der Lösung von Widersprüchen und Konflikten auf die Macht der Vernunft und Moral und die Konsensfindung setzt. (Mouffe 2016) Sie plädiert dafür, den Antagonismus als ein Wesensmerkmal liberaler Gesellschaften anzuerkennen und sich von der konsensualen Lösung aller Konflikte zu verabschieden. Agonales Erinnern meint demnach, den Ursachen von Konflikt und Gewalt auf den Grund zu gehen, aus den unterschiedlichen Perspektiven der Menschen in den Konflikten zu lernen, Leidenschaften und Emotionen für eine lebendige Demokratie zu wecken, die den produktiven Streit fördert und die unterschiedlichen Interessen im Raum stehen lässt. Dieser Streit, so Mouffe, darf nicht zu einem Antagonismus, einem Kampf zwischen Feinden, sondern zu einem Agonismus, einem Kampf zwischen Konkurrenten, führen, die die Regeln der Demokratie beachten. Agonales Erinnern ist reflexiv, zeichnet sich durch eine radikale Multiperspektivität aus und stellt dominante Narrative in Frage. Es bietet keinen Platz für antiquarische Nostalgie und macht sich dagegen für eine reflexive Nostalgie stark, die alle Licht- und Schattenseite offenbart und damit Perspektiven für Zukunftsdebatten eröffnet. (Berger 2019)

Der österreichische Museologe Gottfried Fliedl hat sich in seinem beeindruckenden Manifest „Mein ideales Museum“ in prononcierter Weise für ein „agonistisches Museum“ ausgesprochen: (Fliedl 2016) „Museen haben es im Grunde immer mit konflikthaften Stoffen zu tun. Es gibt nie nur einen Standpunkt des Wissens, der Deutung, der Erzählweise. Museen tendieren (…) dazu, Konflikte zu harmonisieren, zu verleugnen oder zu verdrängen. Sie sind ‚Unschuldskomödien‘.“ Daraus folgert er: „Museen müssen (…) fähig gemacht werden, die Verdinglichung zu durchbrechen und Konflikte anzusprechen und auszutragen, Interessen, Ideologien, Machtverhältnisse offenzulegen.“ Im agonistischen Museum werden im „Umlauf befindliche Chiffren für kollektive Identität, wie Nation, Heimat oder Religion (…) immer wieder neu befragt und durchgearbeitet.“ Ein derart verstandenes Museum wird zum „Ort agonaler, also konfliktfähiger, streitbarer Öffentlichkeit“ und mit Blick auf das wohlfahrtstaatliche Versprechen der Inklusion aller Bürger*innen „ein aktiver Moderator sozialer Demokratie“.

Inklusion setzt Partizipation voraus, die sich auf unterschiedliche Felder erstrecken und die Klientel des Museums durchaus in alle Aktivitäten ‚ihres‘ Museums einbinden kann. Das Museum und insbesondere die professionellen Akteure im Museum werden damit vor völlig neue Aufgaben gestellt. (Piontek, 2017, S. 373-478) Insbesondere die Rolle der Kurator*innen ändert sich dramatisch. War die alte Rolle geprägt durch die fachwissenschaftliche Kompetenz und den souveränen Umgang mit den Objekten der musealen Sammlung, so ist die neue Rolle vielmehr bestimmt durch die Aufgabe der Anleitung und Moderation von Laien, die ihre eigene Geschichte präsentieren wollen. Der Weg führt jetzt nicht mehr in die Sammlung, sondern auf die Straße, in den Stadtteil, um im Gespräch zu ergründen, was in die Ausstellung gehört.

Partizipation im Museum kann eine wichtige Wegweisung für die Weiterentwicklung des kulturhistorischen Museums sein. An die Stelle des monologischen Belehrens im Museum tritt der Dialog mit den Laien, ihre Subjektivität wird zum Orientierungspunkt der Bemühungen und an die Stelle der (bildungsbürgerlichen) Affirmation und Kontemplation tritt die Diskussion, der produktive Streit und die eigene Meinungsbildung, die dann sogar in der musealen Repräsentation ihren Ausdruck findet. Das Museum als Forum bringt Menschen zusammen, die sich sonst nicht begegnen und kann zum Ort der Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme werden. Partizipation ist auch die Chance dafür, dass das Museum neue Nutzergruppen finden kann, die in der Wissensgesellschaft immer mehr an Bedeutung gewinnen.

Das hier nun dargelegte Verständnis des kulturhistorischen Museums ist das Ergebnis aktueller museologischer Debatten, von denen man nicht erwarten kann, dass sie in allen Museen angekommen sind oder in allen Nuancen geteilt werden. Es dient an dieser Stelle somit nur dafür, einen heuristischen Maßstab zu haben, der im Folgenden benutzt werden wird.

Die Kernthemen der sozialen Demokratie

Der französische Literat Anatole France hat 1894 mit einem Bonmot das zentrale Anliegen der sozialen Demokratie ironisch formuliert: „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen, auf Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.“ (France 1925 zuerst 1894, S. 116) Der Liberalismus gründete die bürgerliche Gesellschaft auf einem Verständnis von formaler Freiheit ohne die soziale Ungleichheit zum Thema zu machen. Dagegen war es das Ziel der Arbeiterbewegung - wie auch der bürgerlichen Sozialreform -, die formale Freiheit im Sinne einer sittlichen Idee der Freiheit weiterzuentwickeln. Eine solch verstandene Freiheit setzt materielle Bedingungen voraus, die ein selbstbestimmtes Leben möglich machen und garantiert eine Gleichheit als das gleiche Recht aller auf eine volle Freiheit. (Meyer 2020, S. 49) Dafür hat der französische Philosoph Etienne Balibar das sperrige aber vielsagende Kofferwort „Gleichfreiheit“ (Egaliberté) erfunden. Er beschwört damit die Gleichheit von Mensch und Bürger und will die Kluft im Diskurs über Menschenrechte und Bürgerrechte überwinden. (Balibar 2012 zuerst 1989, S. 72-120) Sozialer Demokratie geht es also im Kern darum, die Werte Freiheit und Gleichheit zu vereinen, zivile, politische und soziale Freiheitsrechte zu verbinden.

Der englische Soziologe und Theoretiker der Bürgerrechte Thomas H. Marshall hat eine Systematik von zivilen, politischen und sozialen Freiheitsrechten entwickelt, deren Durchsetzung er am Beispiel Englands als einen aufeinander folgenden evolutionären Prozess beschreibt. (Marshall 1992, zuerst 1947) Zivile oder bürgerliche Freiheitsrechte versteht er als individuelle Freiheitsrechte, die die Freiheit der Person, die Freiheit des Eigentums und rechtsstaatliche Grundsätze umfassen. Politische Freiheitsrechte ruhen auf den bürgerlichen Freiheitsrechten und umfassen die Möglichkeit zur Beteiligung am Gebrauch politischer Macht, insbesondere durch ein aktives und passives Wahlrecht. Soziale Freiheitsrechte schließlich ergänzen die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte um ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich, sozialer Sicherung und der Gewährleistung eines zivilisierten Lebens für alle. Diese drei Bestandteile des Staatsbürgerstatus, die sich auf das Individuum beziehen, werden noch durch die wirtschaftlichen Staatsbürgerrechte (industrial citizenship) ergänzt, womit „alle mit dem Gewerkschafts- und Kollektivvertragswesen zusammenhängenden Rechte“ gemeint sind. (Müller-Jentsch 2020, S. 321-324) Der Kern der sozialen Demokratie ist also die Gewährung und Garantie sozialer Rechte.

Für Marshall sind die sozialen Rechte, einschließlich der „wirtschaftlichen Staatsbürgerrechte“, die Garantie, dass kapitalistische Märkte, deren gewünschte produktive Wirkungen zur Entfaltung kommen sollen, hinsichtlich der mit ihnen verbundenen negativen Wirkungen eingeschränkt werden können. Insoweit liegen, so Marshall, „im zwanzigsten Jahrhundert Staatsbürgerrechte und kapitalistisches Klassensystem miteinander im Krieg“. (Marshall, 1992, S. 81) Und weiter Marshall: „In ihrer modernen Form implizieren soziale Rechte ein Eindringen des Status in den Vertrag, die Unterwerfung des Marktpreises unter die soziale Gerechtigkeit, die Ersetzung des freien Tausches durch die Erklärung von Rechten.“(Ebd., S. 82)

Soziale Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften ist also nach Marshall nur akzeptabel, wenn es die Gleichheit des umfassenden Staatsbürgerstatus für alle gibt, was Chancen und Möglichkeiten impliziert, die Veränderungen und Verbesserungen für den Einzelnen in Aussicht stellen. Soziale Rechte sind somit auch die Voraussetzung, dass die Formalgeltung bürgerlicher und politischer Rechte für alle überhaupt reale Wirkung bekommt. Gesellschaftliche und demokratische Integration in marktkapitalistischen Gesellschaften kann auf Dauer nur gelingen, wenn die Menschen ihre Interessen ausreichend aufgehoben sehen. Aus demokratietheoretischer Sicht hat Thomas Meyer die Unverzichtbarkeit sozialer Rechte betont: „Ohne ein soziales Fundament, das politische Gleichheit und Handlungsfähigkeit unabhängig macht vom sozialen Status, ohne reale Teilhabechancen am gesellschaftlichen Leben für alle Bürger und ohne ein von allen geteiltes Verständnis fairer und gerechter Ordnung bleibt Demokratie ein Torso, weil sie viele Bürger von der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben ausschließt.“(Meyer 2006, S. 12) Soziale Rechte im Sinne Marshalls und gleichberechtigte Teilhabe nach Thomas Meyer sind somit also Essentials der sozialen Demokratie.

Es muss hier darauf verzichtet werden, das weite Feld der Themen der sozialen Demokratie – man denke z. B. nur an das System der sozialen Sicherung, die Gleichstellung der Geschlechter, die Integration von Migrant*innen oder die Chancengleichheit im Bildungswesen – umfassend zu bearbeiten. (ausführlicher dazu Jäger 2020) In den Fokus soll hier gerückt werden, wie im Museum zum einen (Un-)Gleichheit und zum anderen Partizipation im Sinne wirtschaftlicher Staatsbürgerrechte repräsentiert werden. Die Fragen der Gleichheit/Ungleichheit in historischer Perspektive haben eine derartige aktuelle Relevanz gefunden, so dass ihnen eine besondere Aufmerksamkeit gegeben wird. (Piketty, 2020) Es geht im Folgenden somit um zwei zentrale Fragestellungen: Wie werden die Ungleichheit der Lebens- und Arbeitsverhältnisse und die Veränderungen von Armut und Reichtum im Zeitverlauf repräsentiert? Und: Wie werden die wirtschaftlichen Staatsbürgerrechte, das Koalitionsrecht, und vor allem der Tarifvertrag und die Mitbestimmung repräsentiert?

Zur Repräsentation sozialer Demokratie

Der Museumsboom der letzten Jahrzehnte hat eine Vielzahl von Museen hervorgebracht, die durchaus lohnende Untersuchungsfälle sein könnten. Die Beschäftigung mit der Demokratiegeschichte im Museum erlebt eine regelrechte Konjunktur. (Hertfelder u.a., 2016) Zahlreiche Wechsel- oder Sonderausstellungen haben sich mit einzelnen Themen der (sozialen) Demokratie befasst. (Beispielhaft: Linnemann 2019) Jedoch sind diese Ausstellungsformate nur auf eine kurze Zeit befristet und schnell wieder verschwunden. Aufschlussreicher ist es, die Dauerausstellung im Museum in den Blick zu nehmen, weil sie das Bild eines Museums nachhaltig prägt. Anders als Wechsel- oder Sonderausstellungen werden Dauerausstellungen für einen längeren Zeitraum gemacht, sind mit vergleichsweise größerem Aufwand produziert worden und nehmen in der Regel den meisten Platz im Museum ein. Dauerausstellungen sind „Visitenkarten“ eines Hauses und spiegeln in gewisser Weise das Selbstverständnis der Leitung und der Mitarbeiter*innen des Museums wieder. (Habsburg-Lothringen 2012, S. 9-18) Was haben die beiden „alten“ Dauerausstellungen in Berlin und Bonn zu bieten?

Soziale Ungleichheit

Die schon 2006 unter ihrem Direktor Hans Ottomeyer eröffnete Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin erhebt den Anspruch, einen orientierenden Gesamtüberblick über die deutsche Geschichte im europäischen Kontext zur „Verbreitung der Geschichtskenntnis“ (Ottomeyer u.a. 2015, S.7 ) zu geben. Dabei ist sie einer „konservativen Museumsästhetik“ (Kocka 2006, S. 398-411) verpflichtet, die vollständig auf die auratische, authentische Qualität von Originalobjekten setzt, ein im Grunde kunsthistorischer Ansatz. Museale Kontextualisierung und Inszenierung müssen sich darauf beschränken, das Objekt „ins rechte Licht“ zu rücken, und es können nur die Geschichten aufgerufen werden, für die (Kunst-)Objekte vorhanden sind. Dass damit die Geschichte der Unterschichten, ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen, ihres Emanzipationskampfes, die Alltagsgeschichte insgesamt, keinen prominenten, wenn überhaupt einen Platz einnehmen kann, liegt auf der Hand. Die Geschichte der Unterschichten, so die befremdliche Argumentation von Hans Ottomeyer, entziehe „sich aufgrund der schlechten Überlieferungslage der kontinuierlichen Darstellung im Medium einer Ausstellung durch das Fehlen authentischer historischer Zeugnisse“. (Ottomeyer u.a., 2015, S. 8) Zudem verschließen die in der Ausstellung dominierende Beschränkung auf die politische Geschichte und die durchgängige Elitenperspektive, dass Themen der sozialen Ungleichheit angemessen behandelt werden können. Was ist trotzdem zu finden?

Für die Industrialisierung wird bezeichnender Weise anhand eines zeitgenössischen Ölgemäldes das Beispiel der schlesischen Weber präsentiert, das die Missstände in der Leinenweberei zeigen soll, eine Szene, in der die Weber ihr Tuch an den Zwischenhändler zu verkaufen versuchen. Die im Rahmentext genannte „große Not“ der „neuen Arbeiterklasse“ ist dem Bild nur schwerlich zu entnehmen. (Jäger, 2020 S. 73)

Für die Wilhelminische Zeit wird das „Leben in der Mietskaserne“ thematisiert. Das Foto aus dem Hinterhof einer Berliner Mietskaserne von 1910 und das kleinformatige Modell einer Berliner Mietskaserne, das die Verhältnisse im Prenzlauer Berg um 1880 abbilden soll, sowie „Ess- und Kochgeschirr, Waschutensilien und Haushaltsgegenstände aus einfachen Verhältnissen“ um die Jahrhundertwende können einen Eindruck von der miserablen Wohnsituation vermitteln.(Ebd., 73/74) Kontrastiert wird das Ensemble mit der Garnitur eines großbürgerlichen Wohnzimmers der Neu-Renaissance von 1890. (Ottomeyer u.a.2015, S. 192)

Für die Zwischenkriegszeit werden Hunger und Armut in Folge des Ersten Weltkrieges thematisiert. Eine Grafik von George Grosz zur Unterstützung der Internationalen Arbeiterhilfe – ohne Erläuterungen zu dieser Organisation – und ein Foto „Hungernde Kinder an den Feldküchen der Regierungstruppen“ in Berlin-Lichtenberg um 1919 illustrieren „den Alltag vieler Deutscher“.

Die soziale Lage der Arbeiterschaft taucht erst wieder für die Nachkriegszeit unter dem Rubrum „Leben im Wirtschaftswunder“ auf. Umrahmt vom VW-Käfer, dem Quellekatalog und der „Rekonstruktion einer modernen Wohnzimmereinrichtung“ erfährt der Besucher, wofür die „Bundesbürger“ ihr Geld ausgaben. Der Begleittext im Katalog erläutert: „Sinkende Arbeitslosigkeit und steigendes Lohnniveau führten zu wachsender Kaufkraft. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft zielte auf den sozialen Ausgleich zwischen den Arbeitern und Arbeitgebern. Dazu dienten sozialpolitische Maßnahmen wie Fürsorgeleistungen, Renten- und Lastenausgleichszahlungen oder Wohngeldzuschüsse. Der wachsende Wohlstand wurde zu einem Grundkonsens und erfasste zunehmend alle gesellschaftlichen Schichten.“ (Ottomeyer u.a.2015, S. 366) Es wird suggeriert, dass der soziale Ausgleich zu einer einiger Maßen gleichen Einkommensverteilung geführt habe und der wachsende Wohlstand soziale Ungleichheit gleichsam beseitigen würde. Es muss somit für die Berliner Dauerausstellung festgehalten werden, dass die Einkommens- und Vermögensverteilung in der deutschen Gesellschaft, einmal abgesehen von der Darstellung der unterschiedlichen Wohnsituation, so gut wie überhaupt nicht thematisiert wird.

Die Bonner Ausstellung zur deutschen Geschichte seit 1945 kann als Gegenmodell zur Berliner Ausstellung gesehen werden, wenngleich beide ihre Entstehung der geschichtspolitischen Initiative von Bundeskanzler Helmut Kohl verdanken. Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland setzt auf eine vermittlungsorientierte Museumsästhetik, die die deutsche Geschichte mithilfe von Kulissen und Installationen in Szene setzt, ohne jedoch auf herausragende Originalobjekte zu verzichten. Es sieht seinen Auftrag darin, historisch-aufklärend zu wirken und damit einen „Beitrag zur Demokratieerziehung“ zu leisten, so ihr Direktor Hans Walter Hütter. (HdG-Katalog 2012, S. 13) Der rote Faden der Ausstellung ist die Geschichte der deutschen Demokratie seit 1945, das Narrativ die gelungene politische Demokratie, eine Meistererzählung der Demokratie (Hertfelder 2016, S.155-168), die eine starke kosmopolitische Färbung besitzt. Bezüge zu den Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie finden sich an vielen Stellen in der Ausstellung, zum Teil mit beeindruckenden szenografischen Gestaltungen, wie z.B. zur Bergbaukrise, zur Gastarbeiteranwerbung oder zum Arbeitsplatz Fabrik.

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen werden an vielen Stellen thematisiert. Für die ersten Nachkriegsjahre, Alltag und Wirtschaft 1945-1949, geht es um die weit verbreitete Not, die vermeintlich keine sozialen Unterschiede kannte. Erst in Schubläden zur Währungsreform von 1948 erfährt man, was der Umtausch für Sparguthaben und Sachwerte bedeutete. Der Katalog allerdings thematisiert dies an anderer Stelle ausschließlich aus der Sicht der Inhaber von Sparguthaben und nicht der Besitzer von sächlichem Kapitalvermögen. (HdG-Katalog 2019, S. 55) Aber dieser Hinweis ist der einzige Bezug zur Frage der sozialen Ungleichheit. Wir erfahren, dass das Bruttoinlandsprodukt sich in Westdeutschland von 1949 bis 1955 nominal um mehr als das dreieinhalbfache vermehrt hat, aber nichts über seine Verteilung, dass die Realeinkommen der Arbeitnehmer sich in den 1950er Jahren verdoppeln, aber nichts zur Entwicklung der Einkommen aus Kapitalvermögen.(HdG-Katalog 2019, S. 116, 156, 239) Die Lebensverhältnisse der Menschen werden in vielerlei Hinsicht – Wohnung, Konsum, Arbeit, Familie – geschildert, aber nie in der Dimension sozialer Ungleichheit thematisiert. Hier wird der Mythos der nivellierten Mittelstandsgesellschaft bedient. (Schelsky 1965 zuerst 1953, S. 331-336)

Die Veränderungen der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen für die abhängig Beschäftigten werden durchgehend behandelt, wobei der Bergbaukrise seit 1959 und den Herausforderungen in der Stahl- und Druckindustrie in den 1970er und 1980er Jahren ein besonderes Interesse gilt. Aber Arbeit ist nicht das erste Thema der Dauerausstellung, es wird in die breit dargestellte politische Geschichte eingestreut. Soziale Ungleichheit scheint in Bonn ein regelrechtes Tabu zu sein. Dies ist gerade deshalb bedauerlich, da die Gleichheit in der Demokratie in eine doppelte Krise eingetreten ist, die die Bonner Meistererzählung der Demokratie in besonderer Weise tangiert. Es ist die Erosion der politischen Gleichheit, die durch die rückläufige Wahlbeteiligung gerade sozial marginalisierter Gruppen zu konstatieren ist, (Schäfer 2015) ein schlagender Beleg für die Interdependenz von politischer und sozialer Demokratie. Als ein Instrument der Partizipation besitzt das Bonner Haus einen 12-köpfigen „Arbeitskreis gesellschaftlicher Gruppen“, in dem von den Kirchen über die Sozialpartner, Vertreter der Vertriebenen, der Frauen und Jugend bis hin zu Vertretern der Kommunalen Spitzenverbände entsandte Repräsentant*innen ihre Erwartungen an die Arbeit des Hauses zweimal im Jahr einbringen können. Nach 12jähriger Mitwirkung des Autors in diesem Arbeitskreis müssen allerdings die Möglichkeiten der Beteiligung als sehr marginal eingeschätzt werden.

In den beiden „alten“ Dauerausstellungen ist die für die soziale Demokratie so zentrale Verteilungsfrage eine Marginale, sofern sie überhaupt thematisiert wird. Wenn die Frage einer gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung eine zentrale Voraussetzung für eine alle Staatsbürger*innen inkludierende politische Demokratie ist, dann ist hier für die untersuchten Dauerausstellungen ein eklatanter Mangel zu konstatieren, sofern sie den Anspruch einer umfassenden gesellschafts-, politik- und kulturgeschichtlichen Darstellung erheben. Der folgende Blick richtet sich nun auf die Repräsentation von Partizipation in den beiden Dauerausstellungen, konzentriert auf die zentralen wirtschaftlichen Staatsbürgerrechte, die auf Grundlage des Koalitionsrechts mit den Institutionen Tarifvertrag und Mitbestimmung verbunden sind.

Tarifvertrag und Mitbestimmung

Beim Themenkreis der kollektiven Interessenvertretung ist in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums eine sehr große Zurückhaltung festzustellen, um es vorsichtig zu formulieren. Die Gewerkschaftsbewegung als eigenständiger Teil der Arbeiterbewegung wird mit dem Beginn der Weimarer Republik erstmals und nur am Rande erwähnt, der ADGB als Teil der Eisernen Front und die Zerschlagung der Gewerkschaften 1933. Kein Thema sind die bis in die bundesdeutsche Zeit wirkende sozialstaatliche Begründung der Weimarer Republik mit dem Stinnes-Legien-Abkommen und der Einführung des Flächentarifvertrages sowie die Beteiligung der Gewerkschaften im Widerstand gegen die NS-Diktatur. Die betriebliche Mitbestimmung mit ihrer im Grundsatz bis heute gültigen Fixierung im Betriebsrätegesetz von 1920 ist auch kein Thema. Für die Entwicklung nach 1945 werden die Informationen dichter und einzelne Details der sozialen Demokratie etwas genauer ausgeleuchtet. Zur Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft im Westen werden die Auseinandersetzung um die Sozialisierung angesprochen und die sozialpolitischen Veränderungen in der Arbeitswelt – Montanmitbestimmung, Betriebsverfassungsgesetz, Kampf um Arbeitszeitverkürzung – in Texten und Plakaten aufgerufen und die Krise um den Belegschaftsabbau in der Steinkohle zusätzlich auf einem Monitor mit Filmen aus der Wochenschau und anderen Quellen unterlegt. (Jäger 2020, S. 75-83)

Auch die museumspädagogischen Begleitmaterialien können die gravierenden Lücken in der Ausstellung nicht schließen. Im Heft mit dem Titel „Die Kleinen Leute – Spuren in der deutschen Geschichte“ werden viele Details einer Sozial- und Alltagsgeschichte der „kleinen Leute“ vom Mittelalter bis in die Gegenwart präsentiert. Für die Zeit seit dem Beginn der Industrialisierung wird in einer dichten Folge die Entstehung der Arbeiterbewegung, die Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik, der Beginn des Sozialstaates einschließlich der Weichenstellungen in der Weimarer Republik bis in die Zeit der Bundesrepublik und der DDR erzählt. Man vermisst die bedeutende Weichenstellung mit der Einführung der Montanmitbestimmung 1951 und eine Erzählung, die den Zuwachs der Arbeitnehmerrechte im Betrieb und Unternehmen sowie die Rolle der Gewerkschaften als Tarifpartei auf dem Arbeitsmarkt erwähnt. Der Fokus der Materialien liegt eindeutig auf der Geschichte des Systems der sozialen Sicherung und nicht der Geschichte des Tarifwesens. Dass diese in die Jahre gekommene Repräsentation von Kernelementen der sozialen Demokratie berechtigten Erwartungen nicht gerecht werden kann, zeigte die 2019 präsentierte Wechselausstellung „Weimar: Vom Wesen und Wert der Demokratie“. (DHM:  https://www.dhm.de/ausstellungen/2019/demokratie-2019/weimar/) Sie räumte z. B. der Entstehung der Arbeitslosenversicherung 1927 einen angemessenen Platz ein. Das gleichzeitig mit der Wechselausstellung eröffnete innovative „Demokratie-Labor“ dagegen verzichtete leider darauf, das Thema von Demokratie in der Wirtschaft aufzurufen. Man darf gespannt sein, wie die in Angriff genommene neue Dauerausstellung die Thematik behandeln wird.

Das Bonner Haus der Geschichte hat den Themen Tarifvertrag und Mitbestimmung zwei eigene Inszenierungen gewidmet, die in der Form eines Rondells präsentiert werden. Am Rondell Mitbestimmung erfährt man: „Die Mitbestimmungsgesetze von 1951/52 beteiligen die Beschäftigten an Entscheidungen der Unternehmen.“ Gemeint sind das Montanmitbestimmungsgesetz von 1951 und das Betriebsverfassungsgesetz von 1952. Im Katalog ist zu lesen, dass das Betriebsverfassungsgesetz nur eine Drittelbeteilung der Arbeitnehmer in Aufsichtsräten von Kapitalgesellschaften vorsieht, eine Regelung, die jedoch mit dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 für Kapitalgesellschaften mit mehr als 2000 Beschäftigten der paritätischen Mitbestimmung angenähert worden ist. (HdG-Katalog 2019, S. 120-122) Dies bleibt in der Ausstellung unerwähnt, denn das Rondell zeigt den Stand von Anfang der 1950er Jahre.

Im zweiten Rondell geht es um Tarifautonomie und als Beispiel für „Erste Tarifauseinandersetzungen“ um den Streik der IG Metall in Bayern 1954. Der Katalog geht auf den Bayernstreik nicht ein, vielleicht auch deshalb, weil es sich um einen untypischen Streik gehandelt hat. Er war nicht eine schlichte Lohnbewegung, wie es sie schon in den Jahren zuvor zahlreich gegeben hatte. Der von der IG Metall dilettantisch geführte Streik war ein innergewerkschaftlicher Prestigekampf, der schließlich die sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit in Bayern vorerst zerrüttete, zur Maßregelung von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und sogar zur Entlassung von Betriebsräten führte, die sich rechtswidrig aktiv am Streik beteiligt hatten. Auf Arbeitgeberseite und in Teilen der Öffentlichkeit machte das Wort vom „sozialen Bürgerkrieg“ die Runde. Der sich über viele Wochen hinziehende Streik wäre beinahe mit einer vollständigen Niederlage der IG Metall geendet. (Schmidt 1995) Organisationspolitisch war dieser Streik für die IG Metall die schwerste Niederlage seit 1945. (Kittner, 2005, S. 633-635) Die in den Glasvitrinen des Rondells ausgestellten Dokumente geben erfreulicherweise detailliert Auskunft. Jedoch stellt sich schon die Frage, ob anhand dieses Beispiels die Funktionsweise der Tarifautonomie dargestellt werden kann. Das Streikgeschehen in der Bundesrepublik – organisierte und wilde Streiks sowie Aussperrungen – ist so vielfältig gewesen, dass eine multiperspektivische Darstellung wünschenswert wäre. Es ist deshalb erfreulich, dass das Thema Streik auch an anderen Stellen der Ausstellung berührt wird, wie z.B. der Streik der Drucker von 1978, der in einem Tarifvertrag für den sozialverträglichen Umbau der Druckindustrie mündete. (HdG-Katalog 2019, S. 237)

An anderer Stelle geht es – beeindruckend inszeniert - um den IG Metall-Streik in Schleswig-Holstein von 1956/57. Im Katalog wird zutreffend ausgeführt, dass dieser längste Arbeitskampf in der Geschichte der Bundesrepublik um die Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall geführt wurde und das Ziel des Arbeitskampfes nur zum Teil erreicht werden konnte. Allerdings werden wichtige Details des Streiks in der Ausstellung unzutreffend wiedergegeben und die nachfolgende Verhandlung vor dem Bundesarbeitsgericht nicht erwähnt. (Jäger 2020, S. 99/100)

Die Darstellung der Themen Mitbestimmung und Tarifautonomie hat einen klaren Fokus auf die 1950er Jahren und kann so die bedeutsamen Entwicklungen der folgenden rund 70 Jahre nicht erfassen. Vom nicht erwähnten Mitbestimmungsgesetz 1976 war schon die Rede. Die faktische Neufassung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972, die Einführung Europäischer Betriebsräte seit 1996 und die Weiterentwicklung der Unternehmensmitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft seit 2004 sind Etappen, die in der Geschichte der Mitbestimmung erzählt werden müssen. Dazu gehört auch, die rückläufige Anwendung der Gesetze zu thematisieren, die die Möglichkeiten der Mitbestimmung immer weiter einengen.

Auch die Tarifautonomie hat seit den 1950er Jahren bedeutsame Entwicklungen durchgemacht. Neben dem Streik ist auch die Aussperrung ein häufig eingesetztes Kampfmittel von Arbeitgeberseite gewesen. Die Änderung des „Streikparagrafen“ 116 AFG/146 SGB III im Jahre 1986 bedeutete eine gewichtige Einschränkung des Streikrechts, da nun „kalt“ Ausgesperrte kein Arbeitslosengeld mehr erhielten. Grundlegend hat sich die Tarifautonomie mit der Einführung des Gesetzlichen Mindestlohnes verändert. Der Staat übernimmt mehr Verantwortung. Und der immer weiter voranschreitende Ausstieg von Unternehmen aus der Tarifbindung befördert schon seit Jahren die verstärkten Bemühungen, mit Hilfe des Instruments der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen die wachsenden Lücken zu schließen. Wieviel von diesen Themen man in einer Ausstellung zur Geschichte Deutschlands seit 1945 zeigen kann, ist sicher diskussionswürdig. Aber mehr als bisher dürfte man in der kommenden neuen Dauerausstellung sicher erwarten.

Schluss

Soziale Demokratie ist bislang nur ein Nischenthema in den „alten“ Dauerausstellungen in Berlin und Bonn. Es gibt zudem in Deutschland kein Museum, das sich der Geschichte und Zukunft der sozialen Demokratie wenigstens in einer Sonderausstellung gewidmet hätte. Die Sonderausstellungen in den letzten Jahren rückten das Thema Arbeit oder die Geschichte der Arbeiterbewegung in den Mittelpunkt, die Institutionen der sozialen Demokratie blieben außen vor. Es gibt beeindruckende Wanderausstellungen zur Geschichte der Mitbestimmung, die jedoch ohne dreidimensionale Exponate und Originaldokumente auskommen müssen.(Milert/Tschirbs 2013 u. 2016) Die Museen, die den Anspruch haben, Demokratiegeschichte auszustellen, sind besonders gefordert, die soziale Demokratie in die Gesamtgeschichte der Demokratie zu integrieren, wenn sie ihren Besucher*innen nicht nur eine halbe Demokratie bieten wollen. Und es ist an der Zeit, dass nicht nur anlässlich eines Landesjubiläums - wie in Nordrhein-Westfalen -  ein ganzes Museum geschaffen wird, sondern auch die Geschichte der sozialen Demokratie einen eigenen Ort findet. Dafür gibt es in den kommenden Jahren zahlreiche Jahrestage und Zehntausende von Betriebs- und Personalrät*innen, die viel beitragen könnten. Partizipation im kulturhistorischen Museum ist mehr als entwicklungsfähig.

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Wolfgang Jäger (Dr. phil.) geb. 1954 ist Research Fellow am Institut für soziale Bewegungen und Lehrbeauftragter der Ruhr-Universität Bochum. Er ist stellv. Vorsitzender des Arbeitskreises gesellschaftlicher Gruppen beim Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und Mitglied desselben Arbeitskreises beim entstehenden Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalens in Düsseldorf. Nach Studium, Lehrerausbildung und Promotion im Fach Geschichte arbeitete er als Gewerkschaftssekretär der IGBE/IGBCE und des DGB in den Bereichen Bildung und Vorsitzender. Zuletzt war er 13 Jahre als Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung tätig und Arbeitnehmervertreter in diversen Aufsichtsräten.

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