Vorab I:
Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf das Kunstmuseum. Einer der ärgerlichsten Denkfehler (oder ist er Absicht?) in laufenden Museumsdebatten ist die
Nicht-Differenzierung unterschiedlicher musealer Einrichtungen. Und selbst bei Beschränkung auf das Kunstmuseum – wobei „Beschränkung“ angesichts der Vielzahl und Komplexität an Aspekten der Aufgabe nicht gerecht wird – gilt zur weiteren Verfeinerung die Komponente size matters. Nicht nur der Umfang der Einrichtung macht einen Unterschied, auch die Größe des Orts, der Stadt, des Landes, wo sie angesiedelt ist. Die kleinere Einrichtung ist wendiger, der kleinere Standort ermöglicht größere Teilhabe, Zugehörigkeit, Involvierung der Bevölkerung. Die große Einrichtung in der Metropole hat mehr Prestige, und sie prägt die allgemeine Vorstellung eines Museums, wird aber vom lokalen Publikum distanzierter wahrgenommen.
Vorab II:
Das wird kein Text, der sich gängiger euphemistischer Argumente und wohlfeiler Behauptungen der gesellschaftlichen Relevanz von Museen bedient
(obwohl ich an diese glaube). Angesichts einer Überfülle an Beiträgen, welche Museen als Safe Spaces, Orte produktiver Konfliktaustragung, der freien Rede, der Vielstimmigkeit, der Einübung in das Fremde beschwören, reizt mich der Versuch einer ungeschminkten Darstellung und eines ungeschönten Blicks in die Zukunft, der ohnehin nie dem entspricht, was da kommen mag.
Also: Wessen Geschichte zählt?
Es ist die Erbsünde des Kunstmuseums, dass es die Geschichte einer Geld- und Bildungselite erzählt und einen akademischen Kunstbegriff widerspiegelt. Volkskunst,
Kunst von Autodidakten und Außenseiter*innen, Kunst von psychisch Kranken sowie Kunst außerhalb des Kunstmarkts bleiben mit wenigen Ausnahmen, welche die
Regel bestätigen, ausgeschlossen. Das Kunstmuseum mit seinen historischen Sammlungen repräsentiert Herrschaftsgeschichte. Und selbst das Museum zeitgenössischer Kunst produziert und bestätigt kontinuierlich den Ausschluss großer Teile der Bevölkerung: Nicht-Gebildete, Nicht-Autochthone, Finanzschwache,
Fremdsprachige (in Österreich: Nicht-Deutsch- und Nicht-Englischkundige), NichtMobile usw. Vor allem: Nicht-Kunstauskenner*innen, denn zeitgenössische Kunst ist bekanntlich ein raffiniertes System visueller Codes und inhaltlicher Bezüge, und selbst das zunächst rein visuell und emotional zugängliche Werk blamiert seine*n Betrachter*in, die oder der sich unmittelbar, erkennbar ohne Hintergrundwissen, über diese visuellen oder emotionalen Qualitäten äußert.
Die gute Nachricht: Museen sind sich dieser Umstände bewusst. Tun sie etwas dagegen? Zum Teil ja, zum Teil nein. Es fehlt nicht an gutem Willen. Aber wie es so schön oder so ähnlich heißt: Man kann aus einem Nilpferd keinen Geparden machen und umgekehrt. Daher lautet meine erste These zur Zukunft des Museums:
Das Museum wird unter den Bedingungen sich ändernder Demografie, wandelnder Bildungsinhalte und zunehmend populistischer Politik an Stellung und Bedeutung verlieren.
Das betrifft alle Museen mit Ausnahme des Luxussegments.
Queen Bey erobert den Louvre: Das Musikvideo, das Beyoncé mit ihrem Mann Jay-Z 2018 im Louvre drehte, zählt heute zu den Meilensteinen Schwarzer (mit großem S) Kultur. Das Video ist fantastisch, aber es ist ziemlich überinterpretiert worden. Die weiße, europäische Kunstgeschichte wird darin nicht dekonstruiert, und selbst das Schlussbild Portrait d'une négresse der Künstlerin Marie-Guillemine Benoist aus dem Jahr 1800 bleibt eher Wink mit dem Zaunpfahl, als eine ernsthafte Ansage zu formulieren. Wenn Beyoncé singt „I can’t believe we made it“, scheint sich das auf ihren finanziellen Status zu beziehen und auf ihre symbolische und reale Macht, den Louvre mieten zu können. Das Museum als Trophäe.
Wie hängt das nun mit dem Alltag und der Zukunft der Museen zusammen? Seit Jahren, eher seit Jahrzehnten verfestigt sich ein bedenkliches Phänomen: Museen – und zwar in erster Linie große Museen – werden auf Reisen besucht und nicht am Wohnort. Das bedeutet, dass ihr Besuch dem Erwerb einer gehobenen Ware oder ausgewählten Erfahrung gleichkommt, entsprechend dem Wochenendflug in eine andere Stadt, in der man shoppen geht, gut essen und ins Museum.
Die zweite These lautet also: Das touristische Publikum wird in den großen Museen in Relation zu ortsansässigen Besucher*innen weiter zunehmen. Das gilt trotz der vorhersehbaren, notwendigen und begrüßenswerten Reduktion des TurboTourismus, der mit und nach den Einschränkungen der Covid 19-Pandemie und mit dem steigenden Bewusstsein ökologischer Verantwortlichkeit einhergeht. In Folge wird das Luxussegment der Museen als Wahrzeichen und Wirtschaftsfaktor von politisch Verantwortlichen weiterhin hochgehalten. Je größer das Museum und je mehr Tourist*innen desto geringer ist außerdem die „Gefahr“, dass sich das Museum als Brutstätte unbequemer Zivilgesellschaft, politischer Kritik und multiperspektivischer Öffentlichkeiten etabliert.
Die zwei für die Zukunft der Museen relevantesten Themen beginnen nur zufällig beide mit dem Buchstaben D: Digitalisierung und Diversifizierung. Eines ist ernüchternd, das andere macht Hoffnung.
Dritte These:
Die galoppierende Digitalisierung wird den Museen längerfristig den größten Bedeutungsverlust zufügen. Das ist nicht simpel gedacht im Sinn von: Wenn die Museen ihre Kunstwerke, Ausstellungen und Führungen, Performances und Vorträge im Netz anbieten, wird sich niemand mehr in die realen Einrichtungen bemühen. Vielmehr hat die digitale Durchdringung des gesamten Lebens die Auslöschung zweier Erfahrungen zur Folge, die für den Wert des Museums konstituierend sind: den großen Bogen der Zeitlichkeit und die Materialität, die Sinnlichkeit der Dinge. Der ununterbrochene Aufenthalt im digitalen Raum belohnt zwar mit einer Fülle wertvollen oder nutzlosen Wissens, mit Unterhaltung,
Verblüffung, Spannung und Spaß, ermangelt aber vollständig der sensuellen Qualität des Aufenthalts im Museum. Wer diese Qualität nie zu schätzen gelernt hat vermisst sie nicht. Mit der Einzigartigkeit der „Aura“ von Originalen wird das Museum nicht mehr punkten.
Die große Stärke des Museums, seine wundervolle Kraft besteht im Angebot an die und den Einzelne*n, sich überzeitlich in einem Kontinuum zu verorten, in einer zutiefst menschlichen Verbindung mit der Erinnerung, unmittelbaren
Lebenserfahrung und den Zukunftsentwürfen vorangegangener Generationen, die ihren Ausdruck in Kunstwerken gefunden haben. Dieses Angebot hat das Museum seit mehr als zweihundert Jahren konkurrenzlos erfolgreich gemacht. Und heute? Die Digitalisierung bewirkt eine nie gekannte Dominanz der Gegenwart über Vergangenheit und Zukunft, eine endlose Dauerschleife des Jetzt. Die in Museen zeitgenössischer Kunst derzeit viel beschworene Nowness kommt an das ununterbrochene digitale Jetzt nicht heran.
Zuletzt, wie es sein soll, die Strategie der Hoffnung: Diversifizierung.
Das Museum wird überleben, ebenso wie Schule, Spital, Gefängnis, Verwaltungsamt – die Säulen des Staates. Dass sie alle Institutionen der Disziplinierung sind, das
Museum eingeschlossen, ist bittere Realität. Man kann die Regeln lockern, die Umgangsformen freundlicher machen, Hierarchien abflachen, Partizipation ermöglichen, aber nur so und so weit. Wenn das Museum fortbestehen und mehr sein soll als touristische Trophäe und betuliche Reminiszenz an obsolete Bildungswerte, dann braucht es Diversifizierung. Angesichts der enormen Aufsplitterung der sogenannten Anspruchsgruppen wird Diversität im Museum ausschlaggebend. Sie ist entscheidend in der Migrationsgesellschaft und als Antwort auf Ungleichheiten und Diskriminierung, deren Bekämpfung in Österreich unterentwickelt ist, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Diversität der Mitarbeiter*innen auf allen Ebenen ist notwendig, Heterogenität der Künstler*innen, Vielfalt nicht nur der Repräsentation, sondern auch der Autor*innenschaft von Alten, Kindern, Trans*Personen, Behinderten, religiösen und ethnischen Minderheiten, ein Kaleidoskop der Themen, die Viele betreffen. These vier also: Ohne Diversifizierung keine Zukunft.
Wessen Geschichte zählt? Die Antwort wird weiterhin wehtun. Doch kritisch für die Museen ist eine andere Frage: Wessen Gegenwart zählt?
Stella Rollig studierte 1978 bis 1985 an der Universität Wien Germanistik und Kunstgeschichte und war nach dem Studium als Journalistin tätig; zunächst im ORF-Hörfunk und von 1990 bis 1994 als freie Journalistin bei der Tageszeitung „Der Standard“. Von 1992 an war sie immer wieder als Kuratorin tätig, z. B. in Österreich, in den USA, in Kanada und in Russland. 1994 wurde sie von Minister Rudolf Scholten (SPÖ) zur Bundeskuratorin für bildende Kunst am Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst ernannt. Ebenfalls 1994 gründete sie das Depot. Kunst und Diskussion im MuseumsQuartier und leitete dieses bis 1996.Seit 1996 übte sie Lehrtätigkeiten aus, z. B. an der Akademie der Bildenden Künste München, in The Banff Centre for the Arts in Banff (Kanada), an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz, an der FH Joanneum in Graz und an der Zürcher Hochschule der Künste. Als Jurymitglied war sie regelmäßig bei diversen Preisen und Festivals vertreten (u. a. Filmfestival Split, Stuttgarter Filmwinter, Cittadellarte Fondazione Pistoletto, Diagonale, Festival des österreichischen Films, Otto Mauer-Preis, Österreichischer Grafikpreis, Filmfestival Crossing Europe, Friedrich Kiesler Preis).Von 2004 bis 2016 war sie künstlerische Direktorin des Lentos Kunstmuseums Linz und des Stadtmuseums Nordico. Dort realisierte sie mehr als 120 Ausstellungen und Projekte u. a. mit Gilbert & George, VALIE Export, Kutluğ Ataman, Olafur Eliasson und Cathy Wilkes. Themenbezogene Ausstellungen waren u. a. "See this Sound" (2009), "Der nackte Mann" (2012) und "Rabenmütter" (2015).Seit Jänner 2017 ist sie Generaldirektorin und wissenschaftliche Geschäftsführerin der Österreichischen Galerie Belvedere in Wien.
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