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Michael Fehr über das

demente Museum

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demente Museum

Michael Fehr
Das Demente Museum
Eine Diagnose mit Therapievorschlag

I.
Der Begriff Demenz ist aus dem Lateinischen abgeleitet und bedeutet übersetzt "ohne Geist" oder "abnehmender Geist", wobei "Geist" auch für "Verstand" stehen kann. Üblicherweise wird dieser Begriff zur Bezeichnung eines Defizits im Hinblick auf kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten benutzt, das Personen, dieses Defizit haben, in ihrer Lebensführung mehr oder weniger stark beeinträchtigen und bis zur Auflösung ihrer Persönlichkeitsstruktur führen kann. Eine Demenz manifestiert sich allerdings nicht allein im Abnehmen oder Verlust der Merkfähigkeit, vielmehr gehört zu diesem Krankheitsbild, dass die Fähigkeit, sich zu orientieren, zu lernen und zu denken, zu urteilen, zu planen und zu entscheiden abnimmt oder ganz verloren geht.
In Zusammenhang mit diesem Defizit sind zwei Phänomene bemerkenswert: Erstens, dass sich der Verlust existentiell wichtiger Fähigkeiten, zumindest über weite Phasen der Erkrankung hin, bei vollem Bewusstsein des oder der Erkrankten vollzieht; und das bedeutet, dass der oder die von einer Demenz Erfasste diese Defizite selbst mehr oder weniger klar erkennt und spürt und so lange wie möglich durch Ausweichen oder Hilfskonstruktionen zu überdecken oder kompensieren versucht, allerdings nichts gegen den fortschreitenden Verfall der eigenen Fähigkeiten unternehmen kann. Zweitens bleibt festzuhalten, dass das, was als Defizit definiert und erfahren wird, immer vor dem Hintergrund eines früheren, als normal oder voll funktionsfähig verstandenen Zustands des oder der Erkrankten definiert wird. Dies aber bedeutet, dass Demenz selbst im Endstadium immer nur als ein relativer Status verstanden werden kann, als ein Status, der nur bedingt objektivierbar ist, weil das, was als jeweils normal oder funktionsfähig gilt, wiederum selbst nicht objektiv festgelegt werden kann, sondern Ausdruck sowohl gesellschaftlicher Normen wie einer individuellen Persönlichkeitsstruktur ist.
Wenn ich mir hier die Freiheit nehme, anhand dieses Krankheitsbildes den Zustand unserer Museen zu reflektieren, so tue ich dies nicht in polemischer Absicht, sondern als Versuch zu analysieren und zu verstehen, wie Museen funktionieren, welches Potential sie haben und entfalten könnten. Vom Dementen Museum zu sprechen scheint mir möglich und gerechtfertigt nicht nur, weil es gute Gründe gibt, Museen als soziale Systeme zu verstehen, sondern weil sie darüber hinaus Eigenschaften besitzen, die in verschiedener Hinsicht als Erweiterungen und Vergegenständlichung menschlicher Fähigkeiten verstanden werden können.

II.
Wenn Demenz ohne konkreten Bezug auf menschliche Individuen systemisch betrachtet wird, dann lässt sie sich als Konfiguration eines Systems verstehen, das sich nicht mehr selbst organisieren kann (also nicht mehr zur Autopoiesis fähig ist) und sich daher in seiner Umwelt auflöst. Dieser Vorgang ist nichts Ungewöhnliches, sondern das, was sich in natürlichen Kreisläufen permanent vollzieht: Organismen entstehen, wachsen, altern, sterben, werden zerlegt und transformiert und in den resultierenden Formen zu "Humus", aus dem neue Organismen entstehen. Nur da, wo Systeme "Geist und Verstand" entwickeln, wo also eine Instanz entsteht, die diesen Kreislauf zu beobachten und zu reflektieren imstande ist, kann überhaupt die Idee aufkommen, diesen Prozess auf irgendeine Weise verändern, aufhalten oder ihm gar entgehen zu können. Soziale Systeme im Sinne von Niklas Luhmann, also Systeme, die sich ausschließlich durch Kommunikation konstituieren, sind aber Systeme, die sich relativ unabhängig von natürlichen Kreisläufen entfalten können.
Museen sind allerdings eine besondere Form sozialer Systeme, weil sie aus der Kommunikation mit Hilfe von Dingen entstehen. Ihre grundlegende soziale Funktion ist, anhand von Dingen auf Dauer eine andere Realität als diejenige zur Anschauung zu bringen, der sie als Institution selbst angehören. Diese Funktion können Museen aufgrund ihrer spezifischen Struktur erfüllen; sie besteht im Kern aus zwei konstitutiven Elementen und zwei Komponenten, die in einer spezifischen Operation miteinander in Beziehung gebracht werden. Die beiden konstitutiven Elemente sind einerseits die "Sammlung", das heißt, eine kritische Masse von Dingen, die zumindest ein Merkmal gemeinsam haben; und andererseits das "Museumsgehäuse", worunter ich den gesamten technisch-wissenschaftlich-institutionellen Rahmen "Museum" einschließlich des Gebäudes verstehe. Die beiden Komponenten sind einerseits die "Museumsidee" und andererseits die "Schausammlung"; und die grundlegende Operation bezeichne ich als "Musealisierung". Bevor ich zu meiner Diagnose komme, möchte ich das Zusammenspiel dieser Elemente und Komponenten kurz charakterisieren.
Das Sammeln geht, darin der künstlerischen und naturwissenschaftlichen Arbeit vergleichbar, vom Konkreten, vom Einzelnen und Besonderen aus und lässt sich in verschiedene Einzeloperationen differenzieren. Die auf diese oder jene Weise zusammengestellten Sammlungen unterscheiden sich von der Wirklichkeit durch einen willkürlich gesetzten, inneren Zusammenhang, der, wenn er als Erkenntnisinteresse reflektiert wird, gezielt und systematisch erweitert, differenziert und als wissenschaftlicher Kanon festgeschrieben werden kann.
Demgegenüber ist das Museumsgehäuse von einem Repräsentationsinteresse bestimmt, dem immer eine mehr oder weniger explizit ausformulierte "Museumsidee" zugrunde liegt. Doch obwohl das Museumsgehäuse als die Vergegenständlichung der Museumidee gelten kann, stehen Museumsidee und Museumsgehäuse dennoch fast immer in einem Spannungsverhältnis, weil mit jedem Museumsgehäuse ein begrenzter Rahmen gesetzt wird, während Museumsideen typischerweise grenzenlos sein können.
Die Musealisierung tritt als Vermittlung zwischen Museumsidee, Museumsgehäuse und Sammlungen auf und ist in der Regel von der generellen Bedingung bestimmt, die Museumsidee im einem begrenzten Rahmen mit begrenzten Mitteln realisieren zu müssen, also zum Beispiel als eine Auswahl von Dingen aus der Sammlung, die geeignet sind, die Museumsidee zu repräsentieren.
Vom wissenschaftlichen, künstlerischen und praktischen Arbeiten unterscheidet sich die Musealisierung wie auch immer erworbener Gegenstände vor allem dadurch, dass sie als Fragmente aus der Wirklichkeit erhalten und weitere physische Operationen an ihnen ausgeschlossen werden. Dazu werden sie zunächst magaziniert, konserviert und inventarisiert, also aus dem lebensweltlichen Kontext wie dem Wirtschaftskreislauf im Prinzip ein für alle Mal herausgenommen und als Gemeingüter bewahrt (dies trifft in der Regel nur auf die von der öffentlichen Hand betriebenen Museen zu). Im nächsten Schritt werden die Dinge ästhetisiert, was hier nichts anderes bedeutet, als dass sie ohne lebensweltlichen Bezug (so zum Beispiel auch nicht als Waren) betrachtet und auf Dauer in diesem Status gehalten werden. Diese Ästhetisierung oder, in den Termini des historischen Materialismus ausgedrückt: diese Verdinglichung der Dinge bewirkt ihre konzeptionelle Konservierung als Objekte. Und diese wiederum ist die Voraussetzung für den letzten Schritt der Musealisierung, bei der mit den Objekten beliebig viele und unterschiedliche Zusammenhänge konstruiert werden können, da sie dabei nicht physisch verändert, sondern nur symbolisch bearbeitet werden. In diesen Konstruktionen erscheinen die Objekte dann als Dinge, die etwas bedeuten: spezifisches Wissen repräsentieren und im Kontext mit anderen eine eigene Realität zu konstituieren vermögen.
Wie die Objekte reflektiert werden, welche konkrete Bedeutung ihnen zugewiesen wird und wie sie vom Museumspublikum wahrgenommen werden (können/sollen), gibt das Museumsgehäuse vor. Der Ort, an dem die entsprechenden Deutungen und Realitätskonstruktionen in Erscheinung treten, ist aber die Schausammlung des Museums, also der Bereich innerhalb des Museumsgehäuses, in dem eine Auswahl aus der magazinierten Sammlung auf Dauer präsentiert wird. Dabei wird der Schausammlung der Status einer eigenen Realität verschafft, indem die Sammlung als eine mehr oder weniger kontingente Ansammlung von Dingen betrachtet wird, die im Lichte der Museumsidee gedeutet werden können. Das heißt, die Musealisierung bezieht sich nicht direkt auf die Wirklichkeit, aus der die Sammlungsgegenstände stammen; vielmehr nimmt sie die Sammlung als eine eigene Wirklichkeit wahr, aus der eine Realität konstruiert werden kann. Die Kriterien für diese Auswahl aus einer Auswahl werden jedoch im Laufe der historischen Entwicklung immer weniger aus dem Studium der Sammlungen entwickelt, sondern – mit dem Aufkommen des vom Museum zunehmend unabhängigen Wissenschaftssystems – mehr bis ausschließlich den dort entwickelten Kanones entnommen. Deshalb treten die für die Schausammlung ausgewählten Objekte immer in einer Doppelfunktion auf: Einerseits als Repräsentanten der musealen Sammlungen und andererseits als materielle Belege für das über die Museumsidee definierte Erkenntnisinteresse bzw. Wissensfeld. Dabei ist festzuhalten, dass die Auswahl der Objekte für die Schausammlung in der Regel weder in der einen noch in der anderen Funktion auf einem wissenschaftlich-rationalen Kalkül, sondern auf rhetorisch begründeten Argumentationen beruht; und zwar für das Verhältnis zwischen Schausammlung und Sammlung auf der Figur des Pars pro Toto, für das Verhältnis zwischen Schausammlung und Museumsidee bzw. Wissenskanon dagegen auf der Figur der Synekdoche.  

III. Symptome für eine Demenz lassen sich an allen hier skizzierten Elementen und Komponenten des Museums erkennen und erscheinen dabei in der für dieses soziale System spezifischen Formen. Um der Beliebigkeit zu entgehen, orientiere ich die Diagnose an den eben eingeführten Begriffen Sammlung, Museumsgehäuse, Museumsidee, Schausammlung und Musealisierung und ordne ihnen jeweils ein für die Demenz charakteristisches Symptom zu.  

1. (Sammlung: Verlust des Gedächtnisses) Die charakteristische Form, wie sich das System Museum etwas merkt, ist, Dinge in sich physisch aufzunehmen. Von bloßen Ansammlungen unterscheiden sich museale Sammlungen in erster Linie dadurch, dass sie aufgrund eines bestimmten Erkenntnisinteresse zusammengestellt werden, sei dies aus der Auseinandersetzung mit objets trouvés gewonnen oder aus einer vorab gefassten Idee abgeleitet. Ursprüngliche Blaupause für eine systematische Sammlung ist die Arche Noah. Wenn nun bei der Gründung von Naturkunde-Museen noch mit dem Gedanken gespielt werden konnte, dass es – im Hinblick auf die Begrenztheit der Schöpfung – möglich sein könne, die ganze natürliche Welt anhand einer Sammlung von einzelnen Spezies abzubilden (die Architekturen der alten Naturkunde-Museen lassen diese Idee erkennen), so war dies mit Bezug auf Artefakte von Anbeginn an ein hoffnungsloses Unterfangen, dem gleichwohl über die Spezialisierung der Häuser auf bestimmte Gebiete beizukommen versucht wurde. Zeigte sich mit jeder Spezialisierung aber immer deutlicher, dass Museen bestenfalls für bestimmte Communities oder Interessensgruppen als ein kollektives Gedächtnis fungieren können, so ist in den letzten Jahrzehnten offensichtlich geworden, dass die Institution Museum in toto nur noch als eine von verschiedenen Formen verstanden werden kann, wie sich Wissen bewahren und zur Anschauung bringen lässt. Denn mit dem Aufkommen der digitalen Speicher und Medien liegen Artefakte vor, die für Museen als analogen und ortsgebunden Unternehmen weder medial noch dem Umfang nach handhabbar sind. Diesen Trend bestätigt der anscheinend paradoxe Umstand, dass die Anzahl der Museen in den letzten Jahrzehnten nahezu exponentiell gewachsen ist und noch immer zunimmt. Denn diese Hyperaktivität des Systems Museum kann nicht verdecken, dass die einzelnen Einheiten immer kleinere und zunehmend unverbindlich zugeschnittene Wissensgebiete abdecken, wenn sie denn nicht vor allem nur als Gehäuse mit einem bestimmten Claim bestehen. Pointiert gesagt: Im Rahmen aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen treten Museen in der Tat wie demente Individuen auf, die sich aus sich heraus und mit ihren Mitteln so gut wie nicht mehr an dem, was in ihrer Umwelt geschieht, relevant beteiligen (können), sondern vor allem – und für eine bestimmte Klientel – von den alten Zeiten reden. (Anm.: Für den Bedeutungsverlust im Rahmen gesellschaftlichen Handeln ist nicht zuletzt auch exorbitant ausgeweitete Ausstellungstätigkeit der Museen ein Symptom. In ihr reflektiert sich die Unsicherheit der Museen im Hinblick auf den Stellenwert ihrer Sammlungen und Schausammlungen – ganz abgesehen vom Umstand, dass diese gerade durch das Ausstellungsmachen entwertet werden.)

2. (Museumsgehäuse: Verlust der Identität) Diesem Befund widerspricht nicht, dass viele Museumsgehäuse state of the art sind oder an entsprechenden Standards angepasst werden. Vielmehr weisen, um nur einige Symptome zu nennen, der Abbau museumstypischer Gewerke, der Ersatz Für den Bedeutungsverlust im Rahmen gesellschaftlichen Handeln ist nicht zuletzt auch exorbitant ausgeweitete Ausstellungstätigkeit der Museen ein Symptom. In ihr reflektiert sich die Unsicherheit der Museen im Hinblick auf den Stellenwert ihrer Sammlungen und Schausammlungen – ganz abgesehen vom Umstand, dass diese gerade durch das Ausstellungsmachen entwertet werden. Vielmehr weisen, um nur einige Symptome zu nennen, der Abbau museumstypischer Gewerke, der Ersatz museumseigener Präsentationsmodi durch szenographische Inszenierungen, die Auslagerung der Sammlungsbestände in externe Depots, die Reduktion wissenschaftlicher Funktionen auf Dienstleistungen für temporäre Ausstellungsprojekte, die Einführung von aus der Wirtschaft abgezogenen Managementmethoden, die technisch-konzeptionelle Re-Konfiguration der Museumseinrichtungen entlang der Imperative der Warenästhetik und das Bemühen um Anschluss an die Eventkultur unmissverständlich darauf hin, dass das Museum seine charakteristischen Organisations- und Argumentationsweisen verliert und sich zunehmend den im Alltag etablierten Betriebs- und Kommunikationsformen überantwortet. Als Showroom der Wissenschaften, Boutiquen des Historischen oder Tempel privaten Vermögens verlieren die Museen jedoch ihre Identität als konzeptionell eigenständige soziale Systeme, über die die Wirklichkeit von einem historisch informierten Standpunkt aus selbständig beobachtet werden kann. Hinter den spektakulären, Einmaligkeit signalisierenden Fassaden der Museumsgebäude lösen sie sich von Innen her in ihrer Umwelt auf.

3. (Museumidee: Verlust der Orientierungsfähigkeit) Über eine Museumidee wird nicht allein ein bestimmtes Feld definiert, innerhalb dessen ein Museum tätig ist, vielmehr legt sie zugleich einen konzeptionell-methodischen Ansatz fest, wie dieses bearbeitet werden soll. Wenn nun, wie wir es gegenwärtig erleben, nahezu alles, was wie immer vergegenständlicht, zum Gegenstand einer Museumsidee werden kann, so kann diese Proliferation des Systems Museum nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Methoden, mit denen die Museen die entsprechenden Felder bearbeiten, sich seit der Entstehung der Institution so gut wie nicht verändert haben. Nach wie vor werden in der Regel – die naturhistorischen und manche archäologisch orientierten Museen machen hier eine Ausnahme – mehr oder weniger ausschließlich aus dem Kontext gerissene Einzelstücke oder Unikate gesammelt. Die Fixierung auf das einzelne, als bedeutsam und wertvoll eingeschätzte Objekt führt aber dazu, dass Museen funktionale Zusammenhänge nicht oder nur mit aus anderen Bereichen entliehenen Hilfsmitteln zur Anschauung bringen und nur in Ausnahmefällen ihre Bestände im Lichte aktueller Einsichten und Erkenntnisse kritisch reflektieren können. Und so bleiben sie gerade auch da, wo sie technisch aufgerüstet auftreten, Hochburgen eines positivistisch-repräsentativen Denkens für die Communities, die sie finanzieren. Die zwei typischen Grundformen, die sich dabei ergeben, hat Donald Preziosi als die beiden "anamorphotischen Zustände oder Facetten der museologischen Praxis" bezeichnet: "Das eine ist der Musentempel, also der Schrein des Ichs und für das Ich, der dazu bestimmt ist, die Einzelmenschen zu 'heilen' (d.h. zu disziplinieren) und sie durch Studium und Kontemplation in bürgerliche Subjekte (...) zu verwandeln. Das andere ist die Ausstellung (...), der Schrein für das Objekt, der heilige Fetisch, dazu bestimmt, das bürgerliche Subjekt zu eifrigen Konsumenten zu erziehen: Einzelmenschen dazu zu bringen, sich ihr Leben und das anderer nach Maßgabe des bizarren Phantasievokabulars des Kapitalismus als Gebrauchswerte vorzustellen." (Anm.: Donald Preziosi, Von Dingen verfolgt. Utopien und ihre Folgen, in: Jörn Rüsen, Michael Fehr, Annelie Rambrock (Hrsg.), Die Unruhe der Kultur. Potentiale des Utopischen, Weilerswist 2004, S. 207-229, S. 221)

4. (Schausammlung: Verlust entscheiden und urteilen zu können) Für die Schausammlungen gilt im Prinzip, was ich bereits für das Museumsgehäuse gesagt habe: Sie werden den vom Konsumverhalten geprägten Wahrnehmungsweisen angepasst und lassen die spezifisch museale Form der Argumentation: mit den Dingen selbst zu argumentieren und dabei ihren Betrachtern einen selbstbestimmten Umgang mit ihnen zumindest theoretisch zu ermöglichen, in einem Getöse von szenographischen Inszenierungen, Audio-Guides, computergesteuerten Mitmachangeboten und als Kulturelle Bildung ausgegebenen Erziehungsprogrammen untergehen. Jedenfalls ist zu beobachten, dass der allfällige Trend, Schausammlungen als multimediale Installationen zu gestalten, fast immer auf Kosten der ausgestellten Dinge durchgesetzt wird: Nicht nur, dass in den Schausammlungen immer weniger Dinge gezeigt werden und diese gewissermaßen zu Statisten in den Medien-Inszenierungen verkommen; vielmehr können sie häufig nur noch unter deren technischen Bedingungen, also in abgedunkelten Räumen wahrgenommen werden und bedürfen, um überhaupt noch Aufmerksamkeit zu erregen, einer eigenen Inszenierung, die sich in dem Maße, wie sie den Objekten helfen soll, sich gegenüber den medialen Vermittlungsangeboten zu behaupten, zwischen sie und ihre Betrachter schiebt. Im Ergebnis erscheinen die Dinge bloß wie kostbare Waren, ist nicht mehr zu nachzuvollziehen, aus welchem Erkenntnisinteresse heraus sie einmal gesammelt oder warum sie so und nicht anders gezeigt werden. Kurz: Der Überschuss an Bedeutung, den einjedes interpretierte Ding in traditionellen musealen Settings behält, wird bei seiner Indienstnahme als Element einer Inszenierung abgeschnitten. Damit aber wird die Schausammlung zu einem Medienangebot, das die Eigenaktivität seiner Betrachter auf das bloße Rezipieren-Können reduziert. Denn selbst die allfälligen Vermittlungsangebote sind allem Anschein zu Trotz ja nichts anderes als mediale Aufbereitungen von Objekt-Zuschreibungen, also Informationen, mit denen die Institutionen ihre Autorität gegenüber ihren Besuchern nun aufgrund deren technischer Geschlossenheit und ihres immersiven Charakters bis ins Absolute stärken können. Schausammlungen dieses Typs sind zum Dialog nicht mehr fähig, sondern murmeln nur noch in vor sich hin.

5. (Musealisierung: Verlust eigenständig denken und verknüpfen zu können) Entsprechend läuft die Musealisierung immer häufiger auf ein Zurichten ausschließlich der für die Ausstellung als geeignet erachteten Objekte hinaus. Dabei lassen sich zwei Trends ausmachen: auf die Inszenierung der Objekte im Rahmen von szenographischen Arrangements, deren Wirkung ich schon skizziert habe; und auf eine als wissenschaftlich deklarierte, also auf den jeweilig relevanten Kanon bezogene Ausstellungsweise, bei der die Objekte diesen Kanon illustrieren und alles vermieden wird, was dazu führen könnte, dass die Dinge in den Vitrinen untereinander in Beziehung treten und ihr Beieinander in irgendeiner Form im Sinne einer Erzählung gedeutet werden könnte. Dies wird meistens dadurch zu erreichen versucht, dass die Dinge vereinzelt oder entlang einfachster geometrischer Grundformen und mit ihrer angenommenen oder tatsächlichen Schauseite auf die Betrachter hin orientiert platziert, also so gezeigt werden, dass sie weder eine Art Eigenleben entwickeln können, noch als irgendwie bewertet erscheinen. Das wissenschaftlich begründete Ausstellen hat daher in der Regel den Charakter des Vorführens, des Vorlegens und oder des Herausstellens, durch das die Dinge den Blickenden Betrachtenden ungehindert ausgesetzt werden und das ihre gewissermaßen von allen Nebeneffekten unbeeinträchtigte Wahrnehmung ermöglichen soll. Kommt, wie in neu eingerichteten Ausstellungen häufig zu beobachten, noch ein Ausleuchten der Dinge hinzu, so haben wir es mit einem ausgesprochenen Zur-Schau-Stellen zu tun, einem Präsentieren im vollen Umfang der Wortbedeutung: dem anbietenden Gegenwärtigmachen durch eine spezifische Form der Verdinglichung, durch Ästhetisierung. Präsentationen dieses Typs erzählen allerdings immer und zuallererst von der Beherrschung und Beherrschbarkeit der Welt, indem sie diese anhand der Verfügung und Verfügbarkeit über Dinge demonstrieren. (Anm.: Hier ist festzuhalten, dass insbesondere in historischen und kulturhistorischen Museen, nicht selten aber auch in naturhistorischen Museen die Ausstellungsstücke als Belege für unabhängig von ihnen aufgestellte Theorien oder zur Illustration von Erzählungen dienen, die auf der Basis von Texten entwickelt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Ständige Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin.) Diese Botschaft jedes seine Sammlungen auf diese Weise präsentierenden Museums nehmen wir als Betrachter von Exponaten immer, wenn auch meistens nicht bewusst, wahr. Und sie ist der Anlass für ein spezifisches Unbehagen, nicht nur, weil durch diese Art der Präsentation die natürliche Distanz, die wir fremden Dingen gegenüber normalerweise an den Tag legen, aufgehoben ist, sondern weil wir diese Botschaft unwillkürlich auf uns selbst rückprojizieren, also angesichts der zur Schau gestellten Exponate uns selbst potentiell den wissenschaftlichen Präsentationsmodi unterworfen sehen. (Anm.: So ließe sich das eigentümlich gehemmte Verhalten vieler Museumsbesucher nicht nur damit erklären, dass sie hier beim Betrachten der Exponate offen durch Aufsichtspersonal beobachtet werden, sondern möglicherweise als eine Art unbewusster Rapport zur Erfahrung des Exponiert-Seins selbst.) In jedem Fall aber wird durch diese Botschaft ein unmittelbares, womöglich naiv staunendes Verhältnis gegenüber der Welt unmöglich gemacht und damit dasselbstbestimmte Entdecken, Beobachten und sich behutsam Nähern Können erschwert, wenn nicht ganz außer Kraft gesetzt.

IV.
Das Demente Museum, das ich zum Abschluss skizzieren möchte, baut auf zwei Faktoren auf. Erstens dem Umstand, dass, im grundlegenden Unterschied zur Demenz, die Menschen erfassen kann, beim sozialen System Museum auch dann, wenn seine operativen Funktionen und Fähigkeiten zusammenbrechen sollten, am Ende nicht alles verloren geht, vielmehr die materiellen Sammlungen zumindest vorläufig erhalten bleiben dürften und nur ihre Konnotationen wie ihre Bedeutung verfallen. Zweitens verliert ein dementes soziales System nicht zwangsläufig sein Bewusstsein; denn die Menschen, die es betreiben und nutzen, sind nicht notwendig von seiner Demenz erfasst. Und so kann die Demenz des Museums – ganz anders als bei Menschen – als Chance zu seiner Erneuerung verstanden werden: Das demente Museum kann zu einem aufgeklärten Museum werden.

Es gehört zu meinem konzeptionellen Ansatz, dass ich nicht vorgeben werde, in welcher Weise demente Museen arbeiten und kommunizieren können. Festhalten kann ich jedoch, dass sie nicht auf ihren früheren Zustand rekurrieren oder versuchen werden, diesen zu rekonstruieren. Dies schließt nicht aus, dass in Ausnahmefällen bestimmte alte Museen als Zeugen ihrer Zeit musealisiert werden könnten. Generell wird das Demente Museum jedoch die verbliebenen Bestände dazu nutzen, sie im Lichte aktueller gesellschaftlicher Fragestellungen und Einsichten in neue Zusammenhänge zu bringen und dabei zu allererst die Frage zu beantworten haben, welchen Stellenwert materielle Objekte für den Erkenntnisgewinn im Rahmen einer digitalisierten Kommunikation haben können. Das bedeutet, dass das Demente Museum einen unvoreingenommenen Umgang mit den Objekten praktizieren muss – und kann, da die an ihnen gewonnenen Wissensbestände im Wesentlichen ohnehin nicht mehr an die Objekte gebunden sind, sondern längst in Systemen abgelegt sind, die unabhängig von den Museen existieren.

Um es mit einem museologischen Begriff zu sagen: Die Arbeit des Dementen Museums läuft an erster Stelle auf eine Neuinventarisierung der vorhandenen Bestände hinaus, bei der sie unter anderen als den aus den etablierten Kanones abgezogenen Kriterien wahrgenommen und bewertet werden. So könnte, um einige Beispiele zu nennen, die Zukunft, die historische Dinge einmal hatten, untersucht und damit die linearen Geschichtskonstruktionen und Zukunftsprojektionen aufgebrochen werden, ließen sich Objekte unter dem Konzept "Arbeiten an der Arbeit" (Dirk Baecker), also als Zeugnisse für bestimmte Konzeptionen von Arbeit und damit unter der Fragestellung untersuchen, wie sie wieder aus der Welt geschafft werden könnten, oder wäre die historisch-analoge Produktion im Ganzen zu befragen, inwieweit sie eine Voraussetzung für die menschliche Existenz ist. Das Ergebnis einer solchen Neuinventarisierung ein Museum könnte aber darin bestehen, dass die Museen ihre jeweils individuelle Identität neu entwickeln und als soziale Organismen mit eigenen Erkenntnissen und Urteilen am aktuellen gesellschaftlichen Prozess teilnehmen.

Unter methodischen Gesichtspunkten setzt dies allerdings voraus, dass die Museen den für sie charakteristischen, autoritär-patriarchalen Habitus aufgeben und ihr Schicksal vollständig in die Hände ihrer Nutzer, Unterstützer und sonst wie an ihnen Interessierten legen. Für die museale Praxis bedeutet dies aber, dass Das Demente Museum seine Bestände offen, das heißt im status dementia vorzeigt und alle, die zur Konstruktion ihrer Bedeutung glauben beitragen zu können, auffordert, ihr Wissen zur Verfügung zu stellen. Dies wird jedoch nur dann Erfolg haben, wenn Das Demente Museum garantiert, alle irgendwie nützlichen Beiträge, und mögen sie den Beitragenden selbst auch noch unbedeutend erscheinen, in sich aufzunehmen und nach Maßgabe seiner Möglichkeiten zu behalten und zugänglich zu machen.


*Gekürzte Fassung eines Vortrags, gehalten am 2. Juni 2014 im Rahmen der Tagung "Occupy Museum", Bundesakademie für Kulturelle Bildung, Braunschweig. Veröffentlicht in museumsbrief 2/2014, Landesstelle für Museumsbetreuung Baden- Württemberg, Stuttgart.

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Danke für deinen konstruktiven Kommentar

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